Die ganze Poesie der Alpentraditionen findet manchmal auf einem einzigen Blatt Papier Platz. Die Scherenschnittkunst mit ihren sorgfältig mittels Schere oder Cutter hergestellten Bildern, die wie Spitzengewebe anmuten, macht dieses kleine Wunder möglich. Traditionell werden die Bilder in einem Stück realisiert, in Schwarz und Weiss. Ein Scherenschnitt kann aber auch unterschiedlichste Farbschattierungen oder Formate annehmen und manchmal wie eine Collage aus bunten Papieren aussehen. Modernere Scherenschnittkünstlerinnen und -künstler arbeiten oft mit asymmetrischen, graphischen und abstrakten Motiven. Traditionellere stellen hingegen eher Szenen eines Alpaufzugs oder der Käseherstellung dar, zeigen eine traditionelle Lebenswelt mit Chalets und Holzhäusern oder Blumenmuster sowie Herzen mit geometrischen Motiven.
Im Pays d’Enhaut sind die Scherenschnitte häufig von den Symbolen einer idyllischen Schweiz geprägt und stehen in der Tradition der zwei grossen lokalen Meister Johann-Jakob Hauswirth (1809–1871) und Louis Saugy (1871–1953). Vom Pays d’Enhaut aus haben sich diese volkstümlich inspirierten Scherenschnitte in der ganzen Schweiz verbreitet, ganz besonders im Saanenland, im Simmental und im Kanton Freiburg. Scherenschnittkünstlerinnen und -künstler finden sich auch in anderen Regionen des Landes und der Schweizerische Verein Freunde des Scherenschnitts umfasst mittlerweile mehr als 550 Mitglieder. Trotzdem existiert in der Schweiz keine Schule, an der diese Kunst gelehrt wird – eine Kunst, die deshalb sehr oft von autodidaktischen und unabhängigen Kunstschaffenden praktiziert wird.