Gotthard-Geschichten

Der Gotthard ist mehr als ein Passübergang. Verschiedene Zeitepochen haben ihre je eigenen Geschichten in seinen Fels eingeschrieben, bis aus dem zentral gelegenen Gebirgsmassiv ein eigentlicher Mythos geworden ist. Bis heute funktioniert das Reden über den Gotthard in der ganzen Schweiz als Kulturtechnik, die der gesellschaftlichen Verständigung über gemeinsame Werte dient. Die Anfänge der Mythenbildung lassen sich relativ genau fassen und datieren: Sie gehen auf einen akademischen Historikerdiskurs zurück, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stattfand und folglich in den verschiedensten Formen popularisiert wurde. Das Gotthardmassiv avancierte in Verbindung mit seiner militärischen Verteidigungsfunktion im Ersten und dann vor allem im Zweiten Weltkrieg, als die Schweizer Armeeführung zahlreiche Festungsanlagen in den Fels sprengen liess, zum Sinnbild für nationale Souveränität und technisches Leistungsvermögen. Im politischen Diskurs der «Geistigen Landesverteidigung» stieg es gar zu einem eigentlichen Kristallisationspunkt der schweizerischen Staatsidee auf. Diese säkulare Weihung des Gotthards ist in ihren Grundzügen bis heute wirksam geblieben, mit besonderen Ausprägungen in Uri, wo die nationalen Mythologeme mit Elementen der lokalen Erzähltradition – allen voran mit der bekannten Sage über den Bau der Teufelsbrücke – angereichert sind, und im Tessin, wo ein starker Akzent auf der Entstehungsgeschichte des 1882 eröffneten Eisenbahntunnels liegt. Die Bezüge zur Verkehrsgeschichte standen in den letzten drei Jahrzehnten auch landesweit wieder im Vordergrund. Der Bau des Gotthard-Basistunnels verlieh dem in die Jahre gekommenen Mythos neuen Schub. Das zeitgenössische Gotthard-Narrativ hat durch das Jahrhundertbauwerk eine Reihe von – vornehmlich technischen – Superlativen erhalten.


Detailbeschreibung


Kategorie

Mündliche Ausdrucksweisen
Darstellende Künste


Kanton

Publikationen

Giorgio Bellini: La strada cantonale del San Gottardo: storia e storie della Tremola dall'Ottocento ai giorni nostri. Claro, 1999

Kilian Elsässer, ViaStoria (Ed.): Der direkte Weg in den Süden: die Geschichte der Gotthardbahn. Zürich, 2007

Guido Calgari: San Gottardo - Sintesi nazionale in quattro tempi e tre intermezzi. Lugano, 1937

Urs Hafner: Der unsichtbare Berg. Wie der Gotthard zu seinem Mythos kam. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Mai 2016, p. 47

Villi Hermann: San Gottardo. Produzione TSI. Lugano, 1977 (Film)

Elisabeth Joris, Katrin Rieder, Béatrice Ziegler (Ed.): Tiefenbohrungen. Frauen und Männer auf den grossen Tunnelbaustellen der Schweiz 1870-2005. Baden, 2006

Jon Mathieu: Gotthardverkehrswege - Nukleus der Eidgenossenschaft im Spätmittelalter? In: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Ed.): Eine Zukunft für die historische Verkehrslandschaft Gotthard. Bern, 2014

Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. München, 2012

Orazio Martinetti: Sul ciglio del fossato - La Svizzera alla vigilia della grande guerra. Locarno, 2018

Renato Martinoni: Viaggiatori del Settecento nella Svizzera italiana. Locarno, 1989

Josef Müller: Sagen aus Uri. 3 Bände. Basel, 1926 / 1929 / 1945

Boris Previšić (Ed.): Gotthardphantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur. Baden, 2016

Remigio Ratti: L'asse ferroviario del San Gottardo: economia e geopolitica dei transiti alpini. Locarno, 2016

Judith Schueler: Materialising identity. The co-construction of the Gotthard Railway and Swiss national identity. Amsterdam, 2008

Helmut Stalder: Goethe am Gotthard. In: Neue Zürcher Zeitung, 12. Januar 2017

Aloys Schulte: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluss von Venedig. 2 Bände. Leipzig, 1900

Gerardo Rigozzi, Luca Saltini (Ed.): Lungo i binari del tempo / Auf den Schienen der Zeit. Catalogo della mostra «Lungo i binari del tempo: vedute e stampe della collezione di Giorgio Ghiringhelli, dal Settecento alla ferrovia del Gottardo», Biblioteca cantonale di Lugano, 24 maggio - 31 ottobre 2016. Lugano, 2016

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